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Ukraine: Bauer im eurasischen Schachbrett

Ukraine: Bauer im eurasischen Schachbrett

Antoine-Henri Jomini (1779-1869), Kriegstheoretiker aus der Schweiz, diente von 1805 bis 1813 in der Armee von Napoleon und ab 1813 bis zu seinem Tod als General in den Streitkräften des Zaren aller Reussen. Er beriet die Zaren als strategischer Fachmann. Auch für die Schweiz leistete er einen wichtigen Dienst. Jomini und Frédéric-César de La Harpe (1754-1838), der frühere Erzieher am Zarenhof, konnten mit Hilfe des Zaren Alexander I. und Englands 1814 die Pläne von Metternich zur Aufteilung der Schweiz vereiteln und setzten durch, dass die Schweiz nach den Kriegen gegen Napoleon wieder ihre territoriale Integrität und Unabhängigkeit erhielt.[1] Im Zweiten Frieden von Paris vom 20. November 1815, nach Waterloo, gewährten die Siegermächte der Schweiz die immerwährende bewaffnete Neutralität und die Unverletzbarkeit ihres Gebietes.

In seiner wichtigen Schrift «Précis de l’art de la guerre» von 1837[2] definierte Jomini das Kriegs- und das Operationstheater als Schachbrett:[3]

«Aus den drei Zonen, die ein strategisches Schachbrett bestimmen, soll diejenige gewählt werden, mit der dem Gegner die stärksten Schläge erteilt werden können und mit der man das geringste Risiko eingeht.»

Tragödie eines einzigen Tempos

Deshalb ist der erste Schritt für die Führung eines Krieges ein eigenes Schachbrett und Kriegstheater einzurichten und dasjenige des Gegners richtig zu beurteilen. Anschliessend sind die eigenen Streitkräfte mit grösstmöglicher Beweglichkeit und Schnelligkeit konzentriert und überlegen gegen die gegnerischen Schwerpunkte einzusetzen.[4]

Das Konzept des strategischen Schachbrettes von Jomini für die Planung und die Führung eines Krieges haben spätere geopolitische Theoretiker übernommen, so der frühere Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski. In seinem Werk «The Grand Chessboard» vergleicht er die strategische Lage Eurasiens mit einem Schachbrett, auf dem die Interessen der Grossmächte aufeinanderprallen und die für die Durchsetzung ihrer Interessen Kriege mit ihren Bauern führen.

Dezember 1991 ist die Sowjetunion in verschiedene Teilrepubliken zerfallen. Schwerpunkt der UdSSR waren seit ihrer Bildung die drei slawischen Teilrepubliken «Russische Föderation», Belarus und Ukraine. Als Ursprung der Bildung des russischen Imperiums gilt bis heute das alte Kiewer Reich. Nach der Eroberung von Kiew am 6. Dezember 1240 vernichteten die Mongolen das Kiewer Reich. Das Gebiet der heutigen Ukraine wurde nach der Mongolenherrschaft durch verschiedene Imperien beherrscht. Unter Zarin Katharina II., die Grosse, eroberte Russland 1792 zuerst das südliche Gebiet der Ukraine und nach der dritten Teilung von Polen beinahe die gesamte Ukraine. Die Ukraine blieb mit Ausnahme der kurzen Unabhängigkeit von 1919 nach 1922 unter die Herrschaft der Sowjetunion und damit Moskaus.

Gemäss Brzezinski hat die Unabhängigkeit der Ukraine vom Dezember 1991 die geopolitische Situation auf dem eurasischen Schachbrett vollkommen verändert. Ohne die Ukraine wird Russland seine frühere Grossmachtstellung in Eurasien nie mehr erlangen können:[5]

« The loss of Ukraine was geopolitically pivotal, for it drastically limited Russia’s geostrategic options. Even without the Baltic states and Poland, a Russia that retained control over Ukraine could still seek to be the leader of an assertive Eurasian empire, in which Moscow dominate the non-Slavs in the South and Southeast of the former Soviet Union. But without Ukraine and its 52 million fellow Slavs, any attempt by Moscov to rebuild the Eurasian empire was likely to leave Russia entangled alone in protracted conflicts with the nationally and religiously aroused non-Slavs, …»

Dies bedeutet, dass Russland für die Errichtung eines neuen russischen Imperiums in Eurasien alle Mittel einsetzen muss, damit die Ukraine wieder durch Moskau beherrscht wird. Daraus folgert, dass die USA zur Verhinderung der Bildung eines neuen russischen Imperiums alles daran einsetzen müssen, dass die Ukraine unabhängig bleibt und sich den Zielen von Moskau erwehren kann. Das Spiel um das eurasische Schachbrett ist wieder entbrannt. Dieses Spiel wird erst dann beendet sein, wenn eine der beiden Kontrahenten – Russland oder die USA – durch den Gegner schachmatt gesetzt wird. Dies hätte zur Folge, dass entweder Russland definitiv zur Stellung einer Regionalmacht heruntergesetzt oder die USA aus Eurasien verdrängt würden. Die Ukraine ist in diesem eurasischen Schachspiel geopolitischen Ausmasses, wie die übrigen europäischen Staaten, nur ein Bauer.

Matt in zwei Zügen

[1] Stahel, A.A., Klassiker der Strategie – eine Bewertung, vdf Hochschulverlag an der ETH, Zürich, 3. überarbeitete Auflage, 2003, S. 314.

[2] Jomini, A.-H., Précis de l’art de la guerre, Ou Nouveau Tableau analytique des principales combinaisons de la stratégie, de la grande tactique et la politique militaire, Editions Ivrea, Paris, 1994.

[3] Stahel, A.A., S. 168.

[4] Stahel, A.A., S. 168.

[5] Brzezinski, Z., S. 92.

Titel: Ukraine: Bauer im eurasischen Schachbrett

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