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Die Verteidigung des Baltikums und von Polen durch die europäischen NATO-Staaten

Seit über 1000 Jahren weist das Baltikum einen hohen geopolitischen Stellenwert für die Region auf. Diese Bedeutung setzte vom 8. bis ins 11. Jahrhundert mit den Kriegs- und Handelszügen der schwedischen Waräger nach Kiew und Byzanz ein. Alle diese Kreuzzüge führten über das Baltikum. 1230 erhielt der Deutsche Orden vom Papst und dem Kaiser den Auftrag, die Pruzzen zu christianisieren und zu kolonisieren. Der Orden eroberte Preussen. Nach der Vereinigung mit dem Schwertbrüderorden 1237 nahm der Deutsche Orden von Livland (Lettland und Estland) und damit vom Baltikum Besitz. Drei Jahrhunderte später zerfiel der Ordensstaat in zwei Phasen. Zuerst wurde 1525 Preussen durch den Hochmeister Albrecht I. von Brandenburg säkularisiert. 1560/61 setzte der Zerfall des Livländischen Ordens ein. Die Herrschaft des Deutschen Ordens über das Baltikum war damit beendet.

Nach dem Zerfall des Deutschen Ordens folgten lokale Herrschaften. Preussen wurde unter polnischer Oberhoheit zu einem Herzogtum. Schweden sicherte sich die Herrschaft über das Baltikum. Nach dem Zweiten Nordischen Krieg (1700-1721) eroberte Zar Peter der Grosse das Baltikum für Russland. Mit dem Vertrag von Brest-Litowsk vom 3. März 1918 zwischen dem Deutschen Reich und dem bolschewistischen Russland wurden die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland unabhängig.

Durch das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag von 1939 überliess Hitler Stalin Finnland, das östliche Polen, Lettland und Estland. Sehr bald folgte auch Litauen. Die Rote Armee annektierte 1940 das Baltikum und das östliche Polen. 1939/40 brach der Winterkrieg zwischen der Sowjetunion und Finnland aus. Finnland musste als Folge dieses Krieges Gebiete an die UdSSR abtreten. 1941 folgte die Eroberung des Baltikums durch die deutsche Wehrmacht. Im Verlaufe von 1944 eroberte die Rote Armee das Baltikum wieder. Stalin liess Hunderttausende von Balten in die Gulags deportieren und siedelte an ihrer Stelle Russen an.

1989 forderten Abgeordnete der baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen in Moskau den Vertrag zwischen Hitler und Stalin vorzulegen. 1991 erhielten sie wieder ihre Unabhängigkeit. 1993 zog die Sowjetarmee aus den baltischen Staaten ab.

Während Jahrhunderten war das Baltikum die geostrategische Achse zwischen Westeuropa, Nordeuropa und Russland. Handelsströme und militärische Angriffe zwischen Ost und West führten über das Baltikum. Mit der Gründung von St. Petersburg wurde das Baltikum für Russland zur geostrategischen Schutzmauer für diese Stadt. Die Okkupation des Baltikums durch Russland und später durch die Sowjetunion diente immer dem Ziel, St. Petersburg vor Angriffen aus dem Westen zu schützen und gleichzeitig den Zugang zur Ostsee für die UdSSR bzw. für Russland zu sichern.

Auch nach dem Zerfall der UdSSR 1991 dürften die Machthaber im Kreml an diesem Ziel festhalten. Wohl sind die drei Republiken heute Mitglieder der NATO und der EU, aber es besteht die Gefahr, dass Russland irgendwann einmal versuchen wird, die drei Republiken wieder zu besetzen. Die militärischen Manöver Russlands der letzten Jahre weisen auf eine solche Absicht hin. Da sich die drei Republiken allein nicht verteidigen können, sind sie auf den Schutz der NATO angewiesen. Angesichts der Verlagerung der geopolitischen Interessen der USA nach Asien muss sich die Frage stellen, ob die europäischen NATO-Staaten allein fähig wären, einer russischen Offensive standzuhalten.

Gemäss einer Studie des International Institute for Strategic Studies in London dürften für die europäischen NATO-Staaten zwei verschiedene Optionen für das Zurückschlagen einer russischen Offensive gegen die baltischen Staaten und Polen existieren.[1] Die erste Option wäre eine Bekämpfung des russischen Angriffes durch die Streitkräfte der NATO im Baltikum selbst. Die zweite Option wäre eine Abwehrstellung der NATO-Streitkräfte im nordöstlichen Polen, in Litauen und an der Grenze zu Belarus. Die erste Option könnte zu einer Überdehnung der europäischen NATO-Streitkräfte führen. Die Umsetzung der zweiten Option könnten die europäischen NATO-Staaten ohne Schwierigkeiten um- und durchsetzen.

Für einen Angriff auf das Baltikum dürften Russland 18 schwere Brigaden (Panzer und motorisierte Schützenbrigaden) zur Verfügung stehen. Um diesen Angriff stoppen zu können, hätte die NATO nur 11 schwere Brigaden. Da Russland das Kräfteverhältnis für sich bestimmen könnte, würden die europäischen NATO-Staaten nicht genügend Streitkräfte für eine Gegenoffensive aufbringen können. Sollten sich aber die Europäer auf die Option der defensiven Verteidigung Ost-Polens und Litauens beschränken, dann könnten die NATO-Streitkräfte dem russischen Angriff ohne Schwierigkeiten standhalten. Zugunsten der NATO würde sich auch die Luftüberlegenheit auswirken. Russland könnte für die Offensive lediglich über 296 Kampfflugzeuge verfügen. Die NATO könnte mit ihren 400 Kampfflugzeugen das Kräfteverhältnis mit 1.35:1 zu ihren Gunsten bestimmen. Eine russische Offensive zur Eroberung des Baltikums könnte aufgrund dieser Überlegungen für Moskau mit einem Desaster enden.[2]

Russische Militärkapelle

 

 

[1] Posen, B.R., Europe Can Defend Itself, in: Survival, Global Politics and Strategy, The International Institute for Strategic Studies, December 2020-January 2021, S. 7-33.

[2] Posen, B.R., S. 22.